Es ist für (m)eine Seele hilfreich anzuerkennen, dass mein Schöpfer mich mit Talenten und Schwächen geschaffen hat, so dass ich während dieses Lebenszyklus Dinge lernen, und eine für mich bestimmte Reparatur an der Welt vornehmen kann (→Tikun Olam) – damit kann ich arbeiten. Wenn ich stattdessen anerkennen muss, dass ich ein ach so hilfloser Wurm bin, der nichts aus sich vermag, und meine Rettung an einen dritten delegieren muss, bin ich entmachtet und kann nichts Sinnvolles tun. Es kann helfen, sich einem inspirierten Rabbi „anzuhängen“, aber nachfolgend: so dass ich von ihm lerne und mich von ihm inspirieren lasse; aber nicht so, dass ich die Verantwortung für meine Erlösung an ihn delegiere!
Im Judentum ist es ja auch so, dass G-tt alles ist – אין עוד מלבדו ~ Ein Od Milvado – es gibt nichts außer Ihm. Das bedeutet viel mehr als nur “Es gibt keine anderen Götter”. Es heißt, es gibt überhaupt keine Schöpfung außerhalb Seiner Existenz. Er hat nicht in geraumer Vorzeit einmal die Schöpfungsworte in ein Nichts hineingetönt, und nun schaut Er von außen zu, wie die Dinge sich entwickeln, und leider sind wir abtrünnig geworden und haben uns Seinem Widersacher angehängt und unterworfen – die Basis hiervon ist wieder eine andere Religion: Zoroastrianismus, in der es einen Gott und dessen Widersacher gibt, die auf dem Schlachtfeld der Schöpfung ihren Kampf austragen. Nein, die Schöpfung geschieht immer: wenn G-tt nur einen Moment aufhört die Schöpfungsworte zu sagen, implodiert das Universum zurück ins Nichts, und es wäre so als wäre sie nie dagewesen.
Wir sind der (Töpfer-)Ton in Seiner Hand. Die höchste geistige Übung zu der wir berufen sind, ist die Auslöschung des Selbst und die Anerkenntnis, wenn auch kein komplettes Verstehen möglich ist, dass wir nichts sind, und unser Schöpfer alles. So können wir durchlässig werden für die Segnungen, die G-tt die ganze Zeit durch uns gegenseitig in diese Welt bringen will. Ein Sinnbild hierfür ist die Schofar, das Widderhorn, dass nur erklingen kann, zur Warnung und zum musikalischen Signalisieren Seiner Herrlichkeit, wenn es innen ausgehöhlt und gereinigt ist.
Durch die Delegation der Rettung hat das Christentum die Tendenz, Seelen zu entwerten: siehe das anglikanische Morgengebet: “there is no health in us”, Johann Sebastian Bach hat sogar eine ganze Kantate zum Thema “Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe” geschrieben. Das ist schön, edel, traurig: da können wir uns in unserer Hilflosigkeit suhlen und uns selbst und gegenseitig bemitleiden. Das ist auch eine gewisse Art von Selbstverleugnung: ich tauche durch eine große schlammige Pfütze der Selbstentwertung, um mich dann ganz hilflos von einem für (ein) Gott erklärten Menschen erretten zu lassen. Und doch finde ich mich immer wieder in diesem Schlamm, und wenn nicht, muss ich mich selbst wieder hineinwerfen, damit ich nicht anfange mich zu überheben. Das Judentum ist da konstruktiver: ich bin wertvoll, weil ich eine bewusste und intentionale Schöpfung G-ttes bin, die Sinn und Richtung hat.
Der Tod eines Gerechten erwirkt viel Tikkun, eine große Reparatur. Nach dem was wir über ihn lesen können, war Yeshua/Jesus ein bemerkenswerter Lehrer und Rabbi, der freiwillig, aus Liebe zu uns, ans Kreuz gegangen ist, und aus den Toten auferstanden ist, als eine Erstlingsfrucht. Dass er irgendwie “G-tt im Fleisch” war ist eine nachbiblische Interpretation. Er war ein von G-tt ausersehener Messias. Aber wiederum:
אין עוד מלבדו
– dass G-tt zusätzlich noch in seiner Schöpfung (nochmal “extra” sozusagen) menschliche Form annimmt, ist ebenso absurd wie unnötig, und völlig inkompatibel mit der Vorstellung dessen, wer und was G-tt ist, denn Er ist sowieso in und durch alles, Er ist alles – אין עוד מלבדו!
Es ist machtpolitisch sicherlich geschickt, aber auch unauthentisch, Ishtar-Kult,
Wintersonnenwend-Kult oder Sonnengott-Anbetung fürs Christentum zu usurpieren. Die Christen feiern die Auferstehung und huldigen dabei heidnischem Fruchtbarkeitskult. Die kompromissbereite Anbetung des einen G-ttes plus andere Riten und Bräuche, nur um auf Nummer sicher zu gehen? Nur um liebgewonnenen Traditionen zu frönen? hat durch die gesamte Menschheitsgeschichte G-ttes Zorn hervorgerufen.
Die biblischen Feste, die unser Schöpfer eingerichtet hat, haben ohnehin unvergleichlich mehr Tiefgang als jede heidnische Praxis. So wie die Hebräer durchs Schilfmeer gerettet wurden, rettet uns Jesu von unserer Selbst-Besessenheit (wiederum: durch unsere inspirierte Nachfolge, nicht durch Bankrotterklärung und Delegation!). So wie das Matzah mit Striemen übersät ist und gebrochen wird, und das Afikomen versteckt und später gefunden wird, so werden wir durch seine Striemen geheilt, und so ist er als Bikkurim auferstanden. Ist es nicht seltsam, zu Jesu Ehren Ishtar zu huldigen? Sind die jüdischen Feste nicht tief und bedeutungsvoll, vergegenwärtigend und prophetisch genug, als dass man sie durch irgendwelche dem Heidenkult entlehnten Bräuche oder Zeiten ersetzen sollte oder müsste?!
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Die Sanhedrin galten als blutrünstig, wenn sie ein Todesurteil in sieben Jahren (nach Eleasar ben Asarja sogar: in siebzig Jahren) vollstrecken ließen. Die Balance von Strenge und Gnade/Milde, und das Einräumen etlicher Gelegenheit für Umkehr und Reparatur gab es im Judentum immer schon, es ist in die Torah und dessen Auslegung/Anwendung eingebaut. Jesus hat dies wahrlich nicht „erfunden“. Dass Missverständnis, dass das „Alte Testament“* sich nur um Gesetzlichkeit dreht, und das „Neue“ um Gnade, kommt nur auf wenn man die mündliche Auslegung/Anwendung außer Acht lässt. Und wie Jesus mit der Torah umgeht, ist in den meisten Fällen ganz typisch für seine Zeit, und nicht die revolutionäre Ausnahme.
So auch mit dem Heilen am Sabbat: Jesus hat sich hier grundsätzlich an die gängige Praxis gehalten.
„Jede Beschränkung eines Menschenlebens setzt die Sabbatgebote außer Kraft.“
(Mischna Joma 8,6). (zitiert hier)
Er hat jedenfalls nicht „extra“ um den Pharisäern die Überholtheit oder Außerkraftsetzung des Sabbat zu „demonstrieren“ vorsätzlich den Sabbat für seine Heilungen gewählt.
Dass die Tora „zu schwierig sei zu halten“ ist in Paulus’ Theologie wichtig, damit sein Konzept des Stellvertreter-Retters aufgeht. Was Petrus in Apg 15:10 sagt oder meint, scheint in direktem Konflikt mit Deut 30:11-14 zu stehen. Vielleicht spricht Petrus von der Furcht vor dem Gericht, von der Frage der “Errettung”, an der zu schwer zu tragen wäre. Jakobus sagt zwar in seinem Brief (Jak 2:10) “Denn wer das ganze Gesetz hält, sich aber in einem verfehlt, der ist in allem schuldig geworden.” und viele Christen lesen darein (oder daraus): Wenn es sowieso zu schwer ist, warum soll ich es dann überhaupt versuchen? Aber Jakobus schreibt weiter in Vers 12: “Redet und handelt als solche, die durch das Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen!” – klar, argumentieren viele Christen, dieses Gesetz kann ja nicht die Tora sein, denn die überführt mich ja nur (Paulus’ Römerbrief 5:13,20). Die neue Freiheit ist, dass wir den Heiligen Geist haben, der uns leitet, und er leitet uns, nun Schweinefleisch und Blutwurst essen zu können, die Auferstehung unseres Herrn mit heidnischen Fruchtbarkeitssymbolen zu feiern, und den seit Anbeginn der Schöpfung universal verankerten Ruhetag zu verlegen? Was auch immer das für ein “Geist” ist, es ist nicht der unseres unwandelbaren Schöpfers!
Für gläubige Juden ist die Tora eine unschätzbare, unendlich tiefe Quelle von Weisheit und Führung, ein autoritatives und in jeder Hinsicht mit Ehrfurcht gehandhabtes und betrachtetes Dokument. Ganz und gar nicht findet sich das Bild vom Gesetzbuch, unter dessen Last ich ständig zusammenbreche. Diese Sicht finde ich nur bei Paulus und bei Christen, nie bei (anderen) Juden! Wenn es so „unmöglich“ sein soll die Tora zu halten, wie können dann überhaupt Individuen in der Bibel als „rechtschaffen“ bezeichnet werden, z.B. Hiob, Abel, Johannes der Täufer und seine Eltern, oder das Herz König Davids, und des Königs Asa? Psalm 143:2 sagt uns doch: „niemand der lebt ist rechtschaffen“. Ein Widerspruch? Nein, denn Rechtschaffenheit besteht nicht darin, dass ich alle Gebote perfekt halte, sondern dass ich ein folgsames Herz habe und mich ausstrecke danach, das rechte zu tun und in meinem Leben zu etablieren, und dass ich nach Fehltritten und Rückschlägen mich aufrapple und umkehre – wie König David! Nachfolge besteht nicht darin, möglichst gesetzestreu zu werden. Aber doch darin, zu lernen was diese Gesetze bedeuten und wie ich sie respektieren und anwenden kann und soll. So wird die Tora auch zum Reiseführer einer Entdeckungsreise – je weiter ich gehe, um so mehr sehe ich, und je mehr ich sehe, um so weiter gehe ich – und korrigiere fortwährend meinen Kurs.
Wenn in der Schöpfung schon von Vorneherein alles perfekt wäre, gäbe es keine Entwicklung, kein Lernen. Unsere Mängel sind uns eingebaut, damit wir wachsen und etwas an uns zu berichtigen haben.
* Der Terminus “Altes Testament” stammt von Melito von Sardes, einem der letzten “Kirchenväter”, der noch das Feiern des “Osterfestes” am 14. Nisan, dem Datum des Passahfestes, befürwortete, eine Position die mit dem 1. Konzil von Nicäa abgesägt wurde. Der Begriff “Altes Testament” wurde außerdem von Marcion von Sinope weiter etabliert, Anhänger der Gnosis und strammer Judenfeind: er glaubte, der Gott des Alten Testaments sei ein anderer, böser, und nur der Gott, der sich in Jesus als “Scheinleib” manifestiert habe, sei der wahre und gute.